Man erzählt sich, dass alle Eigenschaften und Gefühle
des Menschen eines Tages ein Treffen hatten.
Lange Zeit jedoch saßen sie nur schweigend herum und langweilten sich,
denn nichts passierte.
Als die Langeweile schon zum dritten Mal gegähnt hatte,
schlug der Wahnsinn – gewitzt und risikofreudig wie immer – vor:
„Lasst uns doch Verstecken spielen!“
Alle horchten auf.
Die Intrige hob interessiert die Augenbrauen
und die Neugierde konnte sich kaum zurückhalten.
Aufgeregt fragte sie: „Verstecken, was ist das?!“
Der Wahnsinn erklärte allen das Spiel
und die Begeisterung und die Euphorie jauchzten vor Vergnügen,
denn ihnen gefiel, was sie da hörten.
Die Freude machte so viele Luftsprünge,
dass sie auch den Zweifel überzeugte
und sogar die Gleichgültigkeit –
die sonst bekanntlich nichts hinterm Ofen hervorlocken kann –
wollte ausnahmsweise einmal mitmachen.
Aber nicht allen gefiel die Idee:
Die Wahrheit zum Beispiel bevorzugte es, sich nicht zu verstecken.
„Was bringt das?“, fragte sie, am Ende würde man sie sowieso entdecken.
Der Stolz meinte herablassend, es sei ein dummes Spiel
(Er ärgerte sich aber nur, dass er nicht selbst auf diese Idee gekommen war),
und die Feigheit zog es vor, nichts zu riskieren.
Es könnte ja was schiefgehen!
Nachdem alle die Spielregeln verstanden hatten,
rief der Wahnsinn laut: „Ich will zählen, ich will zählen!“
und da niemand verrückt genug war, den Wahnsinn später suchen zu wollen
(Wer weiß, wo der sich versteckt hätte?!),
war niemand dagegen.
„Eins, zwei, drei …..“, begann der Wahnsinn
und die Eigenschaften und Gefühle suchten sich ihre Verstecke.
Das erste fand die Faulheit,
die sich wie immer keine große Mühe gab:
Sie ließ sich gleich hinter dem ersten Stein fallen.
Der Glaube stieg zum Himmel empor, wo er sich am besten aufgehoben fühlte,
und der Neid versteckte sich im Schatten des Triumphes,
der es geschafft hatte, bis zur höchsten Baumspitze hinaufzuklettern.
Der Selbstlosigkeit hingegen gelang es kaum, sich zu verstecken,
da sie bei jedem Versteck, das sie fand, immer meinte,
es eigne sich besser für einen ihrer vielen Freunde:
Ein kristallklarer See – ein wunderbares Versteck für die Schönheit;
eine dunkle Höhle – das perfekte Versteck für die Angst;
die Flügel des Schmetterlings – das Beste für das Glück;
ein Windstoß – hervorragend geeignet für die Freiheit …
sie selbst versteckte sich schließlich auf einem Sonnenstrahl.
Der Egoismus hingegen fand rasch einen passenden Ort,
luftig, gemütlich und bequem – aber nur für ihn!
Die Lüge erzählte allen, sie verstecke sich auf dem Meeresgrund,
aber in Wirklichkeit versteckte sie sich hinter dem Regenbogen!
Die Leidenschaft und das Verlangen versteckten sich im Innern der Vulkane
und die Vergesslichkeit – ?
(Ach, herrje, ich habe vergessen, wo sie sich versteckte,
aber das ist auch nicht so wichtig!)
Als der Wahnsinn fast zu Ende gezählt hatte,
hatten alle, die mitspielten, ein Versteck gefunden,
nur die Liebe nicht.
(Das muss uns nicht verwundern, wissen wir doch,
wie schwer es ist, die Liebe zu verbergen!)
Alle Plätze schienen bereits besetzt zu sein,
bis sie schließlich den Rosenstrauch entdeckte
und beschloss, in eine seiner Blüten hineinzukriechen.
„Ich komme!“, rief in diesem Augenblick der Wahnsinn
und er begann, die anderen zu suchen.
Die erste, die entdeckt wurde, war die Faulheit –
gleich hinter dem ersten Stein!
Danach ward der Glaube gefunden:
Er diskutierte im Himmel lauthals mit Gott über theologische Fragen.
Das Verlangen und die Leidenschaft wiederum hörte man in den Vulkanen vibrieren.
In einem unachtsamen Moment fand der Wahnsinn den Neid
und so natürlich auch den Triumph.
Den Egoismus brauchte er gar nicht zu suchen,
denn der kam von ganz allein aus seinem Versteck hervor.
Es hatte sich als Wespennest entpuppt!
Vom vielen Herumlaufen bekam der Wahnsinn Durst
und als er sich dem See näherte, fand er die Schönheit.
Mit dem Zweifel hatte er es noch einfacher,
ihn entdeckte er auf einem Zaun sitzend,
weil der sich immer noch nicht entschieden hatte,
auf welcher Seite er sich verstecken sollte.
Nach und nach fand der Wahnsinn alle seine Mitspieler,
die Hoffnung im grünen Gras
und die Angst in der dunklen Höhle;
die Lüge hinter dem Regenbogen
(Nein, stimmt nicht, sie kam unter einem Stein hervorgekrochen,
der ihr das Genick zu brechen drohte).
Auch die Vergesslichkeit fand der Wahnsinn mühelos,
denn die hatte schon wieder vergessen,
dass sie Verstecken spielen und war unbekümmert spazieren gegangen.
Alle wurden gefunden, nur die Liebe tauchte nirgendwo auf.
Wo mochte sie bloß stecken?
Der Wahnsinn suchte sie überall!
Auf jedem Baum, auf jedem Berg, in jedem Bach dieses Planeten schaute er nach
und wollte schon aufgeben, da half ihm der Verrat!
Der nämlich flüsterte ihm zu, er solle doch mal im Rosenbusch nachsehen.
Langsam fing der Wahnsinn an,
die Zweige des Strauches auseinander zu schieben,
als plötzlich ein greller Schrei ertönte.
Die Dornen der Rosen hatten der Liebe die Augen zerstochen!!!
Ach, was für ein Jammern und Wehklagen war nun zu vernehmen?!
Der Wahnsinn war ratlos und wusste weder ein noch aus.
Er fing bitterlich an zu weinen und unter Tränen gelobte er,
er wolle die Liebe nie mehr verlassen und immer an ihrer Seite sein.
Und so ist es auch geschehen!
Seit dieser Zeit,
seit das erste Mal auf Erden Verstecken gespielt wurde,
ist die Liebe blind
und der Wahnsinn ihr Begleiter!
(Verfasser unbekannt, stilistisch bearbeitet von Jens-Robert Schulz)